Sonntag, 15. April 2012

Wann erscheint der Roman, oder: Das interessiert die Leser nicht!


Liebe Leser!
Am Ende dieser zugegebnermaßen etwas opulenten Ausführung wird ein vorläufiger Abschied stehen ... aber voran steht erst einmal diese eine Frage, die zu beantworten ich versprach, nachdem ich quasi als Begleitmusik zum vierten Roman meine Schreibstube geöffnet hatte:

Wann gibt es endlich den neuen Roman? Mit Betonung auf DEN.

Den dritten, nicht den zweiten, nicht den vierten, denn der zweite erzählte von der alten Mühle im Odenwald, und der vierte, verflixt noch mal, von einem verzauberten Garten, und wieder nicht von Morden im alten Frankfurt!

Es ist viele Jahre her, um genau zu sein, fünfzehn (Gott, da erschrickt man ja selbst!), als ich vom Schreiben "kleiner Geschichten" auf das Schreiben "großer Geschichten" umstieg: Ich verfasste zwar nicht meinen ersten Roman, aber den ersten, für den ich einen Verlagsvertrag erhielt. Über die Themenfindung, das WIE und das WARUM dieser Geschichte haben mich zahlreiche Journalisten eingehend ausgequetscht, und ja, auch Ihr, liebe Leser, habt mir auf den weit über hundert Veranstaltungen, die mich über Jahre kreuz und quer durchs Land führten, zahlreiche Fragen gestellt. Dazu ist also genug gesagt und die "Buch- und Biografieseite" auf meiner Website gibt dem Neugierigen, so er denn immer noch danach sucht, die nötigen Antworten.

Mein Debütroman "Die Detektivin" war und ist ein Erfolg; nicht von Anfang an, ich musste sehr, sehr viel selbst dazutun, aber dann lief es richtig gut. Ich glaube, das darf man sagen, wenn ein Roman als Hard- und Softcover, in mehreren Sonderausgaben und in so vielen (Wieder-)Auflagen und Neuausgaben innerhalb diverser Verlagskonstellationen erschienen ist, dass selbst die Autorin irgendwann mit dem Zählen durcheinanderkam: Marion von Schröder, Heyne, Ullstein-Econ-List, noch mal Heyne, wieder Ullstein (die letzte Neuausgabe vom Januar 2011 mit - wieder mal - einem neuen Titelbild). Die genaue Auflagenhöhe meines Erstlings ist mir zwar nicht bekannt, aber von den mehr als 350 000 Exemplaren der Gesamtauflage macht "Die Detektivin" den "dicksten" Brocken aus, gefolgt von "Die Farbe von Kristall". Warum also, so die nächste Frage, schreibt diese seltsame Autorin nicht einfach weiter? Liefert alle zwei Jahre (oder noch besser: jedes Jahr!) eine Fortsetzung und macht ihre Leser glücklich?

Ganz einfach: Fortsetzungsgeschichten schreiben wollte ich nie. Und "Die Farbe von Kristall" entstand nur, weil mich die Stadtgeschichte von Frankfurt und die historische Kriminalistik, die eng mit dem Entstehen des Kriminalromans verbunden ist, so faszinierten, dass ich unbedingt wissen wollte, wie es weiterging. Weil mich diese bis dahin eher fremde Stadt neugierig machte, weil mir die Menschen, die historisch realen, aber auch die fiktiven, die ich selbst hineingesetzt hatte, über die Jahre ans Herz gewachsen waren. Ich drehte das Rad der Geschichte weiter, bis es für mich als Erzählerin wieder eine Herausforderung war und ließ meine Protagonisten in einer neuen Zeit weiterleben, -lachen, -leiden, ja, auch: sterben (was mir einige böse Briefe einbrachte). Wieder gelang es mir, meine Leser zu finden, und bis heute wird auch "Kristall" neu aufgelegt. Zehn Jahre nach dem Erscheinen der ersten Hardcoverausgabe bekomme ich regelmäßig über diverse Kanäle, die ich im WWW befahre, Leserpost, zumeist verbunden mit der obligatorischen Frage, die ich gerade zu erklären suche. Ja,  das freut mich, und es macht mich ein bisschen stolz angesichts der seit Jahren zu beobachtenden immer kürzeren Halbwertszeit von (neuen) Büchern, der meine Werke beharrlich trotz(t)en.

Schon zwischen dem ersten und dem zweiten historischen Roman hatte ich mir eine Pause und einen belletristischen Szenenwechsel verordnet - "Die Wassermühle" musste einfach sein. Wie schön, dass mir meine Leser auch in dieses Genre zahlreich folgten, immerhin bis heute weit mehr als vierzigtausend. Für ein Buch, das nur "nebenbei" veröffentlicht und für das keinerlei Werbung gemacht wurde, ein durchaus wohltuender Erfolg, der mir das anschließende Abtauchen in die Historie umsomehr erleichterte, da er mir die Gewissheit gab: Du kannst und darfst auch anderes erzählen.

Nachdem "Die Farbe von Kristall" veröffentlicht war, reichte eine "kleine Pause" nicht mehr. Dem mehrjährigen Schreibprozess schlossen sich eine zeitintensive "Öffentlichkeitsarbeit" und zahlreiche Lesungen an, und es  kamen Ereignisse hinzu, die auf die eine oder andere Art jeder im Leben erfährt: Krankheit und Tod, Hausumbau, eine berufliche Neuorientierung, die hohes Engagement und viel Zeit erforderte, und schließlich, kurz bevor das neue Romanprojekt "Hand und Fuß" bekommen sollte, die Erfahrung, dass  Leben und Gesundheit Geschenke sind, mit denen man achtsam umgehen sollte. Es folgte die Erkenntnis, dass das, was viele gut finden, nicht notwendigerweise allen guttun muss. Dass Dinge die für andere im hellsten Licht strahlen, für einen selbst keinen Glanz (mehr) haben. Und dass ich diese Dinge ändern sollte, musste. Egal, ob die anderen das für vernünftig oder angebracht halten würden. 

So sehr ich mit Leib und Seele Schriftstellerin bin, so sehr bin ich mit Leib und Seele Kriminalbeamtin. Die Kriminalbeamtin wird vom Steuerzahler finanziert, und ich weiß nicht nur zu schätzen, wie frei eine unkündbare Stellung macht, sondern ich versuche, dieses Privileg durch meine Arbeitsleistung zu honorieren. So lange ich meinen ersten Beruf habe, so lange wird er deshalb stets an erster Stelle stehen. Und doch kommt gleich danach der zweite; das Schreiben ist für mich schon seit vielen Jahren nicht nur Passion, sondern Profession, was sich nicht nur an der Steuererklärung bemisst, sondern auch an dem Anspruch, den ich an mein Handwerk stelle. Eine angemssene Bezahlung gehört auch hier dazu, aber ich habe die Freiheit, nein zu sagen, weil ich nicht davon leben muss.  

Die Zeit für meinen Zweitberuf war immer eng bemessen, ich habe meine Bücher neben unzähligen Überstunden, nach Vernehmungen und Durchsuchungen, nach Tagen intensiven Aktenstudiums, nach dem Abschluss und sogar in den wenigen Stunden Freizeit während diverser Mordermittlungen geschrieben; ich recherchierte, redigierte und korrigierte im Urlaub, am Wochenende, in jenen Stunden, wenn andere müde werden, wenn der Tag in die Nacht versinkt, wenn jene wundersame Ruhe einkehrt, die die Dinge verwischt und die Gedanken umso klarer werden lässt.
Nach "Kristall" brauchte ich in diesem Beruf eine Pause, die länger wurde als alle Pausen, die ich mir zuvor gegönnt hatte. Wenn man fast zwei Jahre in einer Quasi-Ruine lebt, weil man die eine Hälfte des Hauses einreißt und in der anderen irgendwie den Alltag bestreiten muss, wenn man einen Menschen, der einem sehr nahesteht, auf seinem letzten Weg begleitet, fehlt neben der nötigen Zeit vor allem auch der Sinn fürs Schöngeistige. Die berufliche Umorientierung, der Sprung vom Ermitteln zum Lehren, das Abenteuer, das, was man selbst über so viele Jahre erlebt hat, nun an andere weitergeben zu dürfen, und das Glück und die Freiheit zu haben, es so zu tun, wie man es sachlich für geboten hält, auch das forderte, kostete und kostet Zeit. Zeit, die zum Schreiben fehlt.

Trotz alledem entstanden Ideen für neue Projekte; ich editierte die Wiederauflage meines tatsächlichen Debüts, der Kurzgeschichtenband "Baumgesicht" (2003), nach dem Leser bei Veranstaltungen wiederholt fragten; es folgten ein Buch übers Schreiben (2007), eine Märchensammlung als Erinnerung zum Todestag meiner Mutter (2009), schließlich die lange und intensive Arbeit am vierten Roman "Der Garten der alten Dame", die im März dieses Jahres den Abschluss fand; daneben viel Fachliches im Erstberuf, Seminarstoffe, Skripte, Texte, die mich am Schreiben hielten, aber auf einer anderen Baustelle, auf der ich noch immer und für die kommende Zeit weiterhin primär arbeiten werde: Auch das ist beglückendes Schreiben, weil es meine beiden Berufe zusammenführt. Nein, die Zeit zum Schreiben hat mir - zumindest während der vergangenen drei Jahre - nicht wirklich gefehlt.

Es schließt sich die Frage an: Warum dies alles und nicht das eine, auf das die Leser so sehr warten? Hat die Autorin keine Lust mehr auf Historie? Warum vertröstet sie ihre Leser Jahr um Jahr, vergrätzt sie womöglich, weil sie es irgendwann einfach leid sind: dieses endlose Warten auf neue Abenteuer aus dem alten Frankfurt? Sind der Autorin ihre Leser womöglich egal?
Nein, Ihr Lieben, das seid Ihr nicht! Und wenn ich während der Jahre seit Erscheinen von "Kristall" etwas aufrichtig bedauerte, dann das: Dass ich mit meinem (Nicht-)Schreiben viele meiner Leser enttäusche ... Denn beglückender noch als das Erzählen selbst ist es, wenn das Kunststück gelingt,  Euch, die Leser, nicht nur zu finden, sondern zu fesseln, Euch mitzunehmen in die Welt, die ich erschaffen habe, zu begeistern für das, was mich am und beim Schreiben von jeher fasziniert: die Reise anzutreten in das Land der Fantasie.

Es ist die Frage nach der Standortbestimmung, die mich umtreibt und die lange Suche nach einer Antwort: Was will ich, was kann ich schreiben? Wo will ich hin? Welche Freiheiten möchte ich haben? Wie setze ich die richtigen Prioritäten? Welche Kompromisse sollte ich, welche könnte ich, welche möchte ich auf keinen Fall eingehen? Welche Konsequenzen wird das haben und wie gehe ich damit um?
Schon während der Arbeit an "Kristall", noch viel mehr aber danach, sozusagen als Folge des Erfolgs, stellten sich diese Fragen, und meine Antwort, für die ich eine Zeitlang brauchte, sie mir auch nach außen einzugestehen, fiel eindeutig aus: Egal, wie es weitergeht, SO jedenfalls nicht. Nein, es gibt keine "Schuldigen" in diesem Falle, sondern ganz profan bloß andere Prioritäten.

Neben allem anderen brauche ich beim Schreiben das Gefühl, autark zu sein, frei im wahrsten Sinne des Wortes. Ich mag nicht daran erinnert werden, dass meine Geschichte in ein "Genre" einsortiert werden muss, dass andere über das Kleid entscheiden werden, das sie zu tragen hat. Auch über die Tür zum Haus mag ich nicht diskutieren, nicht über die Zahl der Fenster und wohin das Sofa gestellt wird. Stopp: Doch! Ich mag sogar gern darüber diskutieren, wenn der Diskurs sachlich begründet ist, wenn er der Geschichte guttut - darin liegt für mich der Unterschied zwischen Buch und Tagebuch, dem privaten und dem (ver-)öffentlich(t)en Schreiben. Eine professionelle Geschichte muss für Leser erzählt werden, aber eben nicht um jeden und schon gar nicht für jeden Preis.

Zugegeben: So zu denken ist ökonomisch überaus dumm, und es passt nicht in eine Zeit, der ja genau das abhanden gekommen ist: Zeit. Geduld, innere Ruhe,  Hingabe. Man wird belächelt dafür - es lohne sich nicht, es rechne sich nicht, es stehe nicht im Verhältnis, zu was auch immer. Das stimmt sogar, wenn man es vernünftig betrachtet und objektiv analysiert. Und es gibt ja durchaus genügend Beispiele, die belegen, dass das alles wunderbar zusammengebracht werden kann: Autoren, die Schreibfreude, Lesevergnügen und Ökonomie unter einen Hut zu zaubern vermögen, und Leser, die ihnen zahlreich und zufrieden folgen. Für mich entfaltet sich der Zauber, indem ich mir die nötige Zeit nicht länger stehle, wie ich es viele Jahre getan habe, sondern indem ich sie mir lasse. Zeit zum SO-Schreiben, zum DAS-JETZT-Schreiben, zum DAS JETZT NICHT.

Für Leser sind Schriftsteller wie ich eine Zumutung. Für die diversen Beteiligten in der Buchverwertungskette allerdings auch: für Verlage, die planen wollen; für Lektoren, die Content-Vorstellungen haben; für Vertreter und Marketingleute, die  Schubladen und smarte Coverkreationen lieben, für Buchhändler, die Bücher auf geordnete Stapel legen wollen, damit sie die Leser auch schnell finden. Damit muss und kann ich leben - man schließt Verträge oder man lässt es und akzeptiert das Ergebnis, auch wenn man dafür hinter vorgehaltener Hand, sagen wir mal freundlich: als weltfremd bis meschugge gilt. Schließlich haben sie ja alle recht. Aus ihrer Sicht.

Auch Ihr, liebe Leser, habt recht:  Diese Warterei, die endlose, und diese Autorin, die das ihren Lesern zumutet; unmöglich ist das, Schreib-Harakiri sozusagen, bei dem sich die Seele nicht zu wundern braucht, warum das Interesse für die verblichene Hülle bei aller Liebe irgendwann aufgezehrt ist.
Nein! Euch als Leser braucht nicht zu kümmern, ob Autoren am Fließband schreiben oder Wortpedanten sind. Leser sind weder schuld daran noch verantwortlich dafür, wie sich Schriftsteller fühlen, was sie denken, was sie umtreibt, antreibt. Leser interessiert einzig und allein die Geschichte, die sie erzählen. Und wenn diese Geschichte gefällt, wenn der Leser sie gern liest, und der Autor sie gern geschrieben hat, wenn beide zufrieden sind, der eine mit der Arbeit, der andere mit dem Genuss, dann ist die Bücherwelt in Ordnung. Dann stören keine Marketingleute, keine Verlagsvorgaben, auch keine Nörgler, die meinen, auf Bestsellerlisten stehe ohnehin nur Schrott. Nicht mal die Kollegen, deren vordergründig wohlmeinende Kritik oder überschwengliches Lob doch nur den Neid auf den Erfolg versteckt, den sie selbst nicht haben, vermögen wirklich zu irritieren. Weil die Freude am Schreiben ihren Widerhall in der Freude der Leser findet. Weil der Preis für beide stimmt.

Wenn der Schreiber aber zweifelt, wenn er innerlich spürt, dass er einen anderen Weg gehen muss, dann mag das Band zum Leser noch eine Weile halten, aber irgendwann wird die Kraft, die Lust, verloren gehen, Geschichten mit Leidenschaft zu erzählen. Womöglich schreibt der Autor weiter, weil er nicht das Glück hat, einen Zweitberuf zu haben. Weil es sein Vertrag verlangt. Weil die Auflage so gut ist. Weil das Thema gerade gefragt ist. Weil der Verlag das Manuskript gern so hätte, und die Buchhändler das Buch auf den richtigen Stapel legen wollen. Weil die Leser womöglich diesen Roman unbedingt lesen wollen. Aus allen diesen Gründen können Autoren schreiben, und sie werden glücklich bleiben, solange die vielen Weils nicht dem einzigen untergeordnet werden, das letztlich zählt: Weil es sie drängt, eine gute Geschichte zu erzählen.   

Damit ist es die rechte Zeit, zu gehen* ... aus der virtuellen Stube zurück in die reale. Zeit, das Öffentliche wieder mal für eine Weile zu verlassen und im Privaten weiterzumachen. Mit der einen Sache, die zu Ende gebracht werden muss. Und mit der anderen: Jene Geschichte, die schon so lange darauf wartet, endlich erzählt zu werden.
Wann?
Wann immer die rechte Zeit dafür ist.
Ich melde mich.

Herzlichst
Nikola


PS: Eine wahre Fundgrube für interessante, gute, lesenswerte Bücher findet Ihr übrigens unter dem folgenden Link. Die Website betreibt der Autor Dieter Wunderlich, der selbst mehrere tolle Bücher geschrieben hat und gerade an einem neuen arbeitet:


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*aus: N. Hahn, Der Garten der alten Dame


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